Phänomen oder Gedanken zuerst


Arne Nicolaisen

Rudolf Steiner gibt für die verschiedene Altersstufen einige essensielle Richtlinien an. Ich habe versucht, sie einigermassen zu folgen, und habe gewisse Erfahrungen gemacht.

Analytisch oder syntetisch

Für die 9. Klasse gibt er zum Beispiel an: Mechanik und Wärmelehre, so viel, dass die Schüler die Dampfmaschine verstehen. Und noch dazu: Elektrisität, Elektromagnetismus und Akustik, so viel, dass die Schüler die Telephon verstehen. Der Physikunterricht ist also mit der Technologie verknüpft. Die Kommunikationstechnologie in weitestem Sinne ist das Sentrale, wie die Menschen sich zu einander in Kontakt kommen, und die physikalische Grundlage dazu zu verstehen. Heute ist das eine viel mehr herausfordernde Aufgabe, und lässt sich kaum bewältigen. Man müsste wohl dann die Flugmaschine mit Jet-Motor, Diesel-Autos und die Smart-Telephon durcharbeiten. Florian Schulz macht das. Ich habe es in der Art nicht geschafft. Weiter gibt er an, dass man sollte auf dieser Altersstufe analytisch am Werke vorgehen.

Ich habe erlebt wie Manfred von Mackensen das verstanden hat. Er hat mit der Demonstration der Dampfmaschine (das hat sicher Johannes auch erlebt) begonnen, und dann hat er die verschiedene Teile und die dazuhörende Prozesse systematisch durchgegangen. Also, in einer Art vom Endergebnis angefangen, und das Ganze eine Analyze unterworfen. Es war beeindrückend, aber für mich ein bisschen übertrieben. Ich habe auch erlebt wie Mathias Bockemühl und Florian Schulz es gemacht haben, aber mehr darüber später.

Für die 10. klasse wird angegeben: Mechanik. Statik und Dynamik. Den schiefen Wurf verstehen, vor allem deutlich hervorheben, wie Begriff und Wahrnehmung mit einander verknüpft werden. Aber auch: Zuerst denken, dann nachher das Versuch machen. Also zuerst das Problem genau durchdenken, um herauszufinden, wie das Versuch aufgebaut werden sollte. In der 9. klasse: Zuerst das Phänomen, am besten überraschend, und dann nachher durchdenken, wie es eigentlich zustande kommt, die Begriffe nachher finden.

Für die 10. Klasse hat das zur Folge, dass ich beim freien Fall erst die Frage stellt, nachdem ich mit den Schülern durchdacht habe, das ein Gewicht zum Boden fällt mit zunehmenden Geschwindigkeit, Nimmt die Geschwindigkeit mit der Zeit oder mit der Fallstrecke zu? Das sind die zwei nächstliegende Möglichkeiten. So hat Galilei es gemacht.

Also zuerst:

$v = kt$$v = ks$
$ds/dt = kt$oder:$ds/dt = ks$
$ds = kt dt$$ds/s = k dt$
Und nach Integrieren:
$s =1/2 kt^2$$ln s = kt + C1$
$s = Ce^kt$
Also, das Differenzieren und Integrieren kann man nicht mit Schülern machen, das muss mit Zahlen gemacht werden. Aber durchgedacht sollte es auf jeden Fall. Die eine Hypothese leitet zum Parabelkurve, die andere zu einer Exponentialfunktion. Wenn das festgelegt ist, kann das Fallversuch entsprechend aufgebaut werden. Zeigen die Versuche dass ein Stein mit einer Geschwindigkeit fällt, die mit der Zeit oder mit der Fallstrecke zunimmt? Das kann man vorher nicht wissen, da muss man die Erfahrung fragen. Also, zuerst überlegen, zuerst der Gedankenversuch, und dann durch die Wahrnehmung entscheiden, also der richtige Begriff mit der Wahrnehmung verknüpfen. Der grosse Experte des Gedankenexperiments war ja Einstein, aber Galilei war ja auch gut. (Wir kommen zurück zu dieser wesentlichen pädagogischen Frage: syntetisch oder analytisch? Das hier war nur ein Anfangspunkt.)

Adiabatische Prozesse.

Was ein adiabatischer Prozess ist, ist nicht so einfach für die Schüler. Isotermer Prozess ist einfacher. Obwohl alle Schüler adiabatische Prozesse erlebt haben, haben niemand es zum Bewusstsein gebracht, wie sie eigentlich funktionieren. Ich habe nie erlebt dass ein Schüler bevor den Unterricht, den Begriff adiabatischer Prozess hat. Grundlage ist: Alle Stoffe dehnen sich aus, wenn sie aufgewärmt werden. (Die wenigen Ausnahmen sind wohl hier nicht so wichtig). Und umgekehrt: sie ziehen sich zusammen, wenn sie abgekühlt werden. Gerade wenn dieses die Wirklichkeit ist, könnte man den Satz umkehren, und sagen: Die Stoffe brauchen Wärme um sich auszudehnen. (Es gibt vielleicht auch Fälle, wo Stoffe sich ausdehnen können, ohne aufgewärmt zu werden, aber das kommt jetzt nicht in Frage, wir bewegen uns jetzt in der Wärme-Wirklichkeit) (Ich frage euch also, ist es berechtigt so vorzugehen?)

Ausdehnung

Nun die entscheidende Frage: Was denn, wenn wir ein Stoff ohne Aufwärmen zwingen, sich auszudehnen? Das können die Schüler sich schlecht vorstellen. Und darum mache ich ein Versuch. Ich bringe hinein eine grosse Gasflasche mit CO?, Kohlendioxid, mit einem Druck von 150 bar, der CO? ist also fliessend in der Flasche, und die Flasche hat ein Steigerohr. Wir sprechen darüber, dass die Temperatur Zimmertemperatur sein muss, weil die Temperaturdifferenzen sich ausgleichen müssen, wenn die Flasche die ganze Zeit im Physiksaal gestanden hat. Dann bitte ich die Schüler, lose Papire in die Tasche zu stecken, und öffnet die Hahn voll auf, so dass CO? in das Klassenzimmer auf die Schüler strömt. Ein ziemlich starker Wind, und kalt. Es bläst stark durch den ganzen Saal bis zu den Wänden.

Die Schüler werden ziemlich überrascht - und lachen - nachher. Und wollen, dass ich es noch mal mache. Ich bitte sie dann zu beobachten, dass der Gas scheinbar weiss ist, und frage sie, ob der Gas ganz bis zur Hahn weiss erscheint. Dann machen wir verschiedene Versuche mit einem Lappen bevor der Hahn, der Schwamm, vielleicht eine Tomate, die Hand vorhalten (nur sehr kurz, sie wird schrecklich kalt). Etwas von dem weissen Pulver wird zu den Schülern ausgeteilt. Es ist so kalt, dass es brennt, aber verdampft dann auch sehr schnell, es sublimiert direkt, ohne den flüssigen Zwischenzustand, keine flüssige CO? entsteht. Wir ziehen die vorläufige Konklusion: Das weiss ist festes CO?, Kohlensäureschnee. CO? friert bei minus 80, also muss der CO? mindestens zu dieser Temperatur abgekühlt sein.

Zusammenziehung oder Zusammenpressen.

Ich hole da das handelsübliche adiabatische Feuerzeug, leider werden sie allzu klein fabriziert. Aber die Schüler können trotzdem sehen. Es wird den Schülern sehr deutlich alle Details des Apparats erklärt. Es ist mir ständig klarer geworden, was bei einer solchen Vorführung geschieht. Wenn ein Schüler das Apparat ansieht, zieht er ständig Schlüsse, er schliesst sich sozusagen der Wirklichkeit an. Es ist ein intensiver Willensbetätigung. Zu sagen, "das ist ein Sylinder" und dieses mit dem faktischen Sylinder, den der Lehrer in der Hand hält, gut sichtbar, ist ein Schluss. Bei dieses Stadium des Versuchs wird der Wille intensiv geschult. Das muss der Lehrer sehr bewusst in Griff haben. So bietet der Physik auch eine hervorragende Situation wo der Wille geschult werden kann. Der Unterricht beginnt also mit dem Schliessen und endet mit dem Begriff, und nicht wie in der Logik, wo man mit den Prämissen beginnt und mit dem Schluss endet. Der wache Mensch vorstellt, träumt und will kontinuierlich den ganzen Tag. Man ist dieses gewöhnlicherweise nicht bewusst. Das Träumen ist durch das vorstellende Wachbewusstsein verdeckt. Wenn dieses Gegenstandsbewusstsein weggerückt wird, tritt das Träumen in den Vordergrund, (was aber nicht so leicht zu vollziehen ist, Voraussetzung ist wohl eine Art meditatives Bewusstseins). Es ist aber da die ganze Zeit, wie die Sterne am Tag, Sie verschwinden nicht, aber sind von dem mächtigen Tageslicht überstrahlt. Wenn das Tageslicht stark reduziert wird, tauchen die Sterne hervor. Die Physiker kennen das Wach-Träumen sehr gut von einem optischen Versuch, nähmlich durch das Nachbild. Wenn der farbige Gegenstand weggezogen wird, taucht das komplementärfarbige Nachbild auf. Aber das wird hervorgerufen vom Traumbewusstsein, das ist nur Bild, und hat keine Gegenständlichkeit. Es ist möglich sich zu schulen, so dass man die massive Wand des Träumens (ja, die Traumwelt ist eben zweidimensional, wie ein Malerei es ist) vor sich erlebt. Man muss dann die ganze gegenständliche Welt wegdenken. Schwierig, erfordert eine starke Konsentration, aber es geht, das habe ich mehrmals getan.

Also, jetzt legt man ein kleines Stück Baumwolle, das durch kurzes Brennen entwässert ist, in den Boden des Sylinders ein, und presst mit einer sehr schnellen Bewegung des Stempels die Luft in dem Sylinder zusammen, und die Baumwolle flammt kurz auf, deutlich für alle zu sehen. Man hat also die Luft gezwungen sich zusammenzuziehen, ohne abzukühlen, und wir erleben, dass die Temperatur schnell hyperhoch wird, so hoch dass die Anzündungstemperatur der Baumwolle erreicht wird. Es entsteht Rauch, und die Schüler, die sehr nah des Lehrers sitzt, sehen auch, dass die Luft in dem Sylinder sich ein bisschen klärt, wenn der Stempel langsam hochgezogen wird. Sie müssen dieses Phänomen den anderen Schülern überzeugen. Aber dieser Teil des Versuches, der ziemlich sensitiv ist, muss durch eine andere, deutlichere Fassung den nächsten Tag wiederholt werden.

Besprechung

Dies alles wird dann am nächsten Tag besprochen. Das ist selbstverständlich ein kritischer Punkt. Es geht nicht die Bezeichnung "innere Energie" für die Schüler zu introduzieren. Ich muss sie umschreiben. Ich habe mit Folgendem versucht: Ja, das Kohlendioxid dehnt sich aus, ohne aufgewärmt zu werden. Aber für diese Aufwärmung braucht sie Wärme, nicht wahr? Ja, damit sind die Schüler einverstanden. Aber woher kommt diese Wärme? Und zuletzt sagt einer das ziemlich Ungewöhnte: Ja, die Kohlendioxid muss die Wärme zur Ausdehnung von sich selbst nehmen, und dann sinkt die Temperatur. Das ist ja ein vielsagender Satz, aber ich erkläre ihn nicht weiter. Damit können die Schüler einen Begriff mit dem, was sie gesehen haben, verbinden. Ähnliches für das Zusammenpressen und die Temperaturerhöhung. Bei der Zusammenpressung muss die Luft Kälte von sich selbst nehmen. Das ist eine ungewohnte Begriffsbildung. Schon auf Seite 3 in Jan-Peters Buch steht es, dass die Kälte keine Grösse in der Physik ist. Wie Dunkelheit keine Grösse in der Optik ist. Aber ich glaube wir die Dynamik und Polarotät zwischen Wärme und Kälte bei einer phänomenologischen W¨rmelehre behalten müssen, siehe unten. Und es wird aufgeschrieben.

Nachher werden alle mögliche Alltags-Prozesse, die die Schüler erlebt haben, unter diesem Aspekt beschrieben. Die Schüler lassen sich dann vieles einfallen: Das Aufpumpen eines Fahrrads (wird warm), die Luft aus einer Ballon herauslassen (wird kalt), das Blasen der Wind über eine Kluft, so dass die Temperatur sinkt, der Föhnwind auf der Möreküste (Nordwest-Norwegen), der am Steilhang die Luft zusammenpresst, und die Temperatur +19 Grad letzten Winter in Januar erreichte, und vieles mehr.

London Smog

Nachher erzähle ich über den London Smog. Er ist berühmt, aber kommt nicht mehr. Es war Schluss Ende der 1950-er. Wie es früher war, erzähle ich aus meiner eigenen Erfahrung als kleiner Bube in 1951 (fast 6 Jahre alt). Ich bin mit meinem englischen Grossvater in der Umgebung von London in seinem Rover gefahren (zum Weihnachtsbesuch). Es war dichter Nebel. Und wir kamen zu einem grossen Kreisel. Es gab 6-7 Wege hinein und heraus. Aber wir konnten unseren Herausweg nicht finden. Ich ging heraus um den rechten Weg zu finden (Ja, ich konnte schon lesen - auf Englisch). Als ich den Weg gefunden hatte, hatte ich viel Mühe das Auto wiederzufinden - so schlimm war es. Der schlimmste Smog kam meistens etwa in Oktober-November, und dauerte bis etwa Mitte Februar. Die feuchten Winde kamen vom Meer im Westen, die Temperatur war sinkend, und die Menschen machten ihr Kohlenfeuer auf, um sich warm zu halten, (Russ entsteht). (3 Bedingungen)

Jetzt wollen wir im Labor den London Smog produzieren. Ich nehme eine grosse Rundkolbe, 5 Liter, Stopfen mit Loch, Glasrohr und Gummischlauch. In der Rundkolbe ist lange etwa 250 ml Wasser gewesen, so dass die Luft darin mit Wasserdampf gesättigt ist. Dann können wir darangehen. Wenn ich in den Schlauch kräftig hineinblase, wird die Luft zusammengepresst, die Temperatur steigt, was noch als Tropfen da sein konnte, verdampft. Dann halte ich mit einer Hand den Schlauch zusammen, so dass der Überdruck bleibt. Wenn ich dann los lasse, entweicht etwas Luft, der Druck sinkt, die Luft dehnt sich aus, ohne Aufwärmen, die Temperatur sollte sinken, und dann müsste etwas Wasserdampf sich zu Wassertropfen verdichten. Das erscheint dann als Nebel in der Kolbe. Sehen die Schüler das? "Habt ihr das gesehen", frage ich. "Nein", sagen die meisten, "da gab es keine Änderung". "Aber doch, das müsstet ihr doch gesehen haben", behaupte ich. Und dann antwortet vielleicht ein oder zwei Schüler, die nah ans Demonstriertisch sitzen, dass sie doch etwas gesehen haben, aber es war ziemlich undeutlich. Dann bitte ich alle genau nachzusehen, und mache das Versuch noch mal - (Hyper-Konzentration in der Klasse). Aber viele sind enttäuscht, sie haben nichts gesehen, einige sind unsicher - haben sie etwas gesehen, oder doch wieder nicht? (Ich glaube nicht, dass man etwas sehen kann). Einige sagen dass sie ein leichter Nebel gesehen haben. Meistens sagen dann ein wacher Schüler: Aber, wir haben ja nur zwei von den Bedingungen gehabt, wir haben ja kein Kohlerauch, es ist kein Russ entstanden. Da muss ich ihn ehrlich sagen, "ja, das habe ich vergessen". Wie schafft man Kohlerauch? Ich nehme den Stopfen aus, nehme ein Stück Papier, zünde es an über der Kolbenöffnung, und etwas Rauch sinkt in die Kolbe hinein. Dann nimmt das Stück Papier ordentlich Feuer, ich werfe es auf den Boden und trampele schnell und hart die Flamme aus, so dass nur schwarze Asche auf dem Boden liegt, alles ein bisschen überdramatisiert. Dann beginnt das Versuch auf neuem. Wenn ich jetzt hineinblase, sieht man wie den Rauch sich klärt, und wenn ich den Überdruck loslasse: Ja, dann sehen alle deutlich Nebel, weisser Nebel, und wenn ich noch mal hineinblase, ja dann verschwindet der Nebel, die Luft wird wieder klar. Wenn es alles mit wärmerem Wasser wiederholt wird, wird es noch deutlicher. Das Versuch kann also unter verschiedenen Bedingungen gemacht werden.

Aber die Frage entsteht: "Was ist eigentlich Nebel, und was bewirkt eigentlich der Rauch, und wie verschwand dann der London Smog?" "Ja, liebe Schüler denkt daran, bitte kommt morgen und antwortet auf die Fragen". "Und was für Fragen habt ihr noch?"

Fortsetzung folgt. Aber jetzt haben die Schüler die Ansätze zu einem lebendigen Begriff des adiabatischen Prozesses. Der Begriff ist nicht besonders präzis, aber kann weiterausgearbeitet und entwickelt werden.

Claude Monet:
Sun breaking trough the fog.
House og Parliament, Monet series