Im Grunde genommen macht die Beschäftigung mit der Geisteswissenschaft ein nebenhergehendes, fortwährendes praktisches Leben in den geistigen Verrichtungen notwendig. Es ist eigentlich unmöglich, über die mancherlei Dinge, die gestern besprochen worden sind, zur völligen Klarheit zu kommen, wenn man nicht versucht, durch eine Art lebendigen Erfassens der Verrichtungen des geistigen Lebens, namentlich des denkerischen Lebens auch, mit den Dingen zurechtzukommen. Denn warum ist es im Geistesleben so, daß zum Beispiel Unklarheit herrscht über die Beziehungen der allgemeinen Begriffe, des Dreiecks im allgemeinen, zu den besonderen Vorstellungen der einzelnen Dreiecke bei Leuten, die sich gerade berufsmäßig denkerisch mit den Dingen beschäftigen? Woher kommen denn solche ganze Jahrhunderte beschäftigende Dinge, wie das gestern angeführte Beispiel mit den hundert möglichen und den hundert wirklichen kantischen Talern? Woher kommt es denn, daß man die einfachsten Überlegungen nicht anstellt, die notwendig wären, um einzusehen, daß es so etwas wie eine pragmatische Geschichtsschreibung, wonach immer das Folgende aus dem Vorhergehenden sich herleitet, nicht geben kann? Woher kommt es, daß eine solche Überlegung nicht angestellt wird, die einen stutzig machen würde in bezug auf das, was in den weitesten Kreisen als eine eben unmögliche Art der Auffassung menschlicher Geschichte sich verbreitet hat? Woher kommen alle diese Dinge?
Sie kommen davon her, daß man sich wirklich auch dort, wo es sein sollte, viel zuwenig Mühe gibt, in einer präzisen Art die Verrichtungen des geistigen Lebens handhaben zu lernen. In unserer Zeit will ja jeder wenigstens das Folgende berechtigterweise beanspruchen können, er will sagen können: Denken, nun selbstverständlich, das kann man doch. Also fängt man an zu denken. Da gibt es Weltanschauungen in der Welt. Viele, viele Philosophen haben existiert. Man merkt, der eine hat dies, der andere jenes gesagt.
Nun, dass das auch so halbwegs gescheite Leute waren, die auf vieles aufmerksam machen konnten. Was man selber als Widerspruch bei ihnen findet, darüber reflektiert man nicht, darüber denkt man nicht nach. Aber man tut sich um so mehr darauf zugute, daß man doch «denken» kann. Also man kann nachdenken, was die Leute da gedacht haben, und ist überzeugt davon, daß man schon selber das Rechte finden werde. Denn man darf heute nicht auf Autorität etwas geben! Das widerspricht der Würde der Menschen-natur. Man muß selber denken. Auf dem Gebiete des Denkens hält man das durchaus so.
Ich weiß nicht, ob die Leute sich überlegt haben, daß sie es auf allen anderen Gebieten des Lebens nicht so halten. So fühlt sich zum Beispiel keiner dem Autoritätsglauben oder der Autoritätssucht hingegeben, wenn er sich seinen Rock beim Schneider oder seine Schuhe beim Schuhmacher machen läßt. Er sagt nicht: Das ist unter der Würde des Menschen, daß man sich die Dinge von Menschen machen läßt, von denen man wissen kann, daß sie die entsprechenden Dinge handhaben können. Ja, man gibt vielleicht sogar zu, daß man diese Dinge lernen müsse. Bezüglich des Denkens gibt man das im praktischen Leben nicht zu, daß man Weltanschauungen auch haben müsse von dorther, wo man Denken und noch manches andere gelernt hat. Das wird man heute wirklich in den wenigsten Fällen zugeben.
Das ist eines, was unser Leben in den weitesten Kreisen beherrscht, was geradezu dazu beiträgt, daß der menschliche Gedanke in unserer Zeit kein sehr verbreitetes Produkt ist. Ich denke, man könnte das ja auch begreiflich finden. Denn nehmen wir an, es würden einmal alle Menschen sagen: Stiefel machen lernen, das ist eine längst nicht mehr menschenwürdige Sache; wir machen einmal alle Stiefel,- so weiß ich nicht, ob dabei lauter gute Stiefel herauskommen würden. Aber jedenfalls gehen in bezug auf das Prägen richtiger Gedanken in der Weltanschauung die Menschen in der Gegenwart meistens von solchen Gedanken aus.
Das ist das eine, was dazu beiträgt, daß der Satz, den ich gestern gesprochen habe, schon seine tiefere Bedeutung hat: daß der Gedanke zwar dasjenige ist, in dem der Mensch sozusagen völlig drinnen ist und den er daher in seinem Innenwesen überschauen kann, daß aber der Gedanke nicht so verbreitet ist, als man denken möchte. Dazu kommt allerdings in unserer Zeit noch eine ganz besondere Prätention, die allmählich darauf hinauslaufen könnte, jede Klarheit über den Gedanken überhaupt zu trüben. Auch damit muß man sich beschäftigen. Man muß wenigstens einmal den Blick darauf wenden.
Nehmen wir einmal folgendes an: Es hätte in Görlitz einen Schuhmacher namens Jakob Böhme gegeben. Und jener Schuhmacher namens Jakob Böhme hätte das Schuhmacherhandwerk gelernt, hätte gut gelernt, wie man Sohlen zuschneidet, wie man den Schuh über den Leisten formt, wie man Nägel in Sohlen und Leder hineintreibt und so weiter. Das hätte er alles aus dem Fundament heraus klar gewußt und gekonnt. Nun wäre dieser Schuhmacher namens Jakob Böhme hergegan-gen und hätte gesagt: Jetzt will ich einmal sehen, wie die Welt konstruiert ist. Nun, ich nehme einmal an, der Welt liegt zugrunde ein großer Leisten. Über diesen Leisten sei einmal das Weltenleder darübergezogen worden. Dann wären die Weltennägel genommen worden, und man hätte die Weltensohle durch Weltennägel in Verbindung gebracht mit dem Weltenlederüberzug. Dann hätte man die Weltenschuhwichse genommen und den ganzen Weltenschuh gewichst. So kann ich mir erklären, daß es am Morgen hell wird. Da glänzt eben die Schuhwichse der Welt. Und wenn diese Schuhwichse der Welt am Abend übertüncht ist von allem möglichen, so glänzt sie dann nicht mehr. Daher stelle ich mir vor, daß irgend jemand in der Nacht zu tun hat, um den Weltenstiefel neu zu wichsen. Und so entsteht der Unterschied zwischen Tag und Nacht.
Nehmen wir an, Jakob Böhme hätte dies gesagt. Ja, Sie lachen, weil Jakob Böhme dies allerdings nicht gesagt hat, sondern er hat für die Görlitzer Bürgerschaft anständige Schuhe gemacht, hat dazu seine Schuhmacherkunst benutzt. Er hat aber auch seine grandiosen Gedanken entfaltet, durch die er eine Weltanschauung aufbauen wollte. Da hat er zu anderem gegriffen. Er hat sich gesagt: Da würden meine Gedanken des Schuhmachens nicht ausreichen; denn will ich Weltgedanken haben, so darf ich nicht Gedanken, durch die ich Schuhe mache für die Leute, auf das Weltgebäude anwenden. Und er ist zu seinen erhabenen Gedanken über die Weit gekommen. Also jenen Jakob Böhme, den ich zuerst in der Hypothese konstruiert habe, hat es in Görlitz #SE151-028 nicht gegeben, sondern jenen anderen, der gewußt hat, wie man es macht. Aber jene hypothetischen Jakob Böhmes, die so sind wie jener, über den Sie gelacht haben, die existieren heute überall. Da finden wir zum Beispiel Physiker, Chemiker. Sie haben die Gesetze gelernt, nach denen man Stoffe in der Welt verbindet und trennt. Da gibt es Zoologen, die haben gelernt, wie man Tiere untersucht und beschreibt. Da giht es Mediziner, die haben gelernt, wie man den physischen Menschenleib und das, was sie die Seele nennen, zu behandeln hat. Was tun diese? Sie sagen: Wenn man eine Weltanschauung sich suchen will, so nimmt man die Gesetze, die man in der Chemie, in der Physik oder in der Physiologie gelernt hat - andere darf es nicht geben -, und daraus konstruiert man sich eine Weltanschauung. Genauso machen es diese Menschen, wie es der eben hypothetisch konstruierte Schuhmacher gemacht hätte, wenn er den Weltenstiefel konstruiert hätte. Nur merkt man nicht, daß methodisch die Weltanschauungen genau ebenso zustande kommen wie jener hypothetische Weltenstiefel. Es sieht allerdings etwas grotesk aus, wenn man sich den Unterschied von Tag und Nacht durch Abnutzen des Schuhleders und durch Wichsen in der Nacht vorstellt. Aber vor einer wahren Logik ist es im Prinzip genau dasselbe, als wenn man mit den Gesetzen der Chemie, der Physik, der Biologie und Physiologie ein Weltgebäude zustande bringen will. Ganz genau dasselbe Prinzip! Es ist die ungeheure Überhebung des Physikers, des Chemikers, des Physiologen, des Biologen, die nichts anderes sein wollen als Physiker, Chemiker, Physiologen, Biologen und dennoch über die ganze Welt ein Urteil haben wollen. Es handelt sich eben überall darum, daß man den Dingen auf den Grund geht und daß man es auch nicht vermeidet, durch Zurückführung desjenigen, was nicht so durchsichtig ist, auf seine wahre Formel, ein wenig hineinzuleuchten in die Dinge. Wenn man also methodisch-logisch das alles ins Auge faßt, dann braucht man sich nicht zu verwundern, daß bei so vielen Weltanschauungsversuchen der Gegenwart eben nichts anderes herauskommt als der «Weltenstiefel». Und das ist so etwas, was hinweisen kann auf die Beschäftigung mit der Geistes-wissenschaft und auf die Beschäftigung mit praktischen Denkverrichtungen, #SE151-029 was einen geneigt machen kann, sich damit zu beschäftigen, wie man denken muß, damit man durchschauen kann, wo Unzulänglichkeiten in der Welt vorhanden sind. Ein anderes möchte ich anführen, um zu zeigen, wo die Wurzel unzähliger Mißverständnisse gegenüber den Weltauffassungen liegt. Macht man denn nicht, wenn man sich mit Weltanschauungen beschäftigt, immer wieder und wieder die Erfahrung: da glaubt der eine dieses, der andere jenes; der eine verteidigt mit manchmal guten Gründen - denn gute Gründe kann man für alles finden - das eine, der andere mit ebenso guten Gründen das andere; und der eine widerlegt das eine ebenso gut, wie der andere das andere mit guten Gründen widerlegt? Anhängerschaften entstehen ja in der Welt zunächst nicht dadurch, daß der eine oder der andere auf gerechtem Wege überzeugt wird von dem, wa da oder dort gelehrt wird. Nehmen Sie nur einmal die Wege, die die Schüler großer Männer wandeln müssen, um zu dem oder jenem großen Manne hinzukommen, dann werden Sie sehen, daß darin für uns zwar etwas Gewichtiges in bezug auf das Karma liegt, aber hinsichtlich der Anschauungen, die heute in der äußeren Welt existieren, muß man sagen: Ob der eine nun ein Bergsonianer oder ein Haeckelianer oder dies oder jenes wird, das ist - wie gesagt, Karma erkennt ja die heutige äußere Weltanschauung nicht an -, das ist schließlich wirklich von anderen Dingen abhängig als davon, daß man durchaus nur auf dem Wege der tiefsten Überzeugung dem anhängt, zu dem man gerade geführt worden ist. Gekämpft wird hinüber und herüber. Und ich habe gestern gesagt: Es gab einmal Nominalisten, solche Menschen, welche behaupteten, die allgemeinen Begriffe hätten überhaupt keine Realität, wären bloße Namen. Sie haben Gegner gehabt, diese Nominalisten. Man nannte in der damaligen Zeit - das Wort hatte damals eine andere Bedeutung als heute - die Gegner der Nominalisten Realisten. Diese behaupteten: Die allgemeinen Begriffe sind nicht bloß Worte, sondern sie beziehen sich auf eine ganz bestimmte Realität. Im Mittelalter wurde ja die Frage «Realismus oder Nominalismus» ganz besonders für die Theologie eine brennende auf einem Gebiete, das heute die Denker nur noch wenig beschäftigt. Denn in der Zeit, als die Frage «Nominalismus oder Realismus» auftauchte, im elften bis dreizehnten #SE151-030 Jahrhundert, da war etwas, was zu dem wichtigsten menschlichen Bekenntnisse gehörte, die Frage nach den drei «göttlichen Personen», Vater, Sohn und Heiliger Geist, die ein göttliches Wesen bilden, die aber doch drei wahre Personen sein sollten. Und die Nominalisten behaupteten: Diese drei göttlichen Personen existieren nur im einzelnen, «Vater» für sich, «Sohn» für sich, «Geist» für sich; und wenn man von einem gemeinsamen Gotte spricht, der diese drei umfaßt, so ist das nur ein Name für die Drei. - So schaffte der Nominalismus die Einheit in der Trinität hinweg, und die Nominalisten erklärten gegenüber den Realisten die Einheit nicht nur hinweg, sondern sie hielten sogar für ketzerisch, was die Realisten behaupteten, daß die drei Personen nicht bloß eine gedachte, sondern eine reale Einheit bilden sollten. Nominalismus und Realismus waren also Gegensätze. Und wahrhaftig, wer sich in die Literatur vertieft, die aus dem Nominalismus und Realismus hervorgegangen ist in den gekennzeichneten Jahrhunderten, der bekommt einen tiefen Einblick in das, was menschlicher Scharfsinn aufbringen kann, denn sowohl für den Nominalismus wie für den Realismus sind die scharfsinnigsten Gründe aufgebracht worden. Es war ja damals schwieriger, ein solches Denken sich anzueignen, weil es damals noch keine Buchdruckerkunst gab und man durchaus nicht so leicht dazu kam, sich an solchen Streitigkeiten zu beteiligen, wie es zum Beispiel die zwischen Nominalisten und Realisten waren; so daß der, welcher sich an solchen Streiten beteiligte, im Sinne der damaligen Zeit viel besser vorbereitet sein mußte, als heute Menschen vorbereitet sind, die sich an den Streiten beteiligen. Eine Unsumme von Scharfsinn ist aufgeboten worden, um den Realismus zu verteidigen, eine andere Unsumme von Scharfsinn ist aufgeboten worden, um den Nominalismus zu verteidigen. Woher kommt so etwas? Es ist doch betrüblich, daß es so etwas gibt. Wenn man tiefer nachdenkt, muß man sagen, daß es betrüblich ist, daß es so etwas gibt. Denn man kann sich, wenn man tiefer nachdenkt, doch sagen: Was nützt es dir denn, daß du gescheit bist? Du kannst gescheit sein und den Nominalismus verteidigen, und du kannst auch gescheit sein und den Nominalismus widerlegen. Man kann irre werden an der ganzen Gescheitheit! Es ist betrüblich, #SE151-031 auch nur einmal hinzuhorchen auf das, was mit solchen Charakteristiken gemeint ist. Nun wollen wir einmal dem eben Gesagten etwas gegenüberstellen, was vielleicht gar nicht einmal so scharfsinnig ist wie vieles, was für den Nominalismus oder für den Realismus aufgebracht worden ist, was aber vielleicht gegenüber dem vielen einen Vorzug hat: daß es gerades-wegs auf das Ziel los geht, das heißt, daß es die Richtung findet, in der man zu denken hat. Nehmen Sie einmal an, Sie versetzten sich in die Art, wie man allgemeine Begriffe bildet, wie man eine Menge von Einzelheiten zusammenfaßt. Auf zweifache Weise kann man - zunächst an einem Beispiele -Einzelheiten zusammenfassen. Man kann da so, wie das der Mensch in seinem Leben tut, durch die Welt schlendern und eine Reihe gewisser Tiere sehen, welche seidig oder wollig, verschieden gefärbt sind, Schnauzhaare haben, und die zu gewissen Zeiten eine eigentümliche, an das menschliche Waschen erinnernde Tätigkeit verrichten, die Mäuse fressen und so weiter. Man kann solche Wesen, die man so beobachtet hat, Katzen nennen. Dann hat man einen allgemeinen Begriff gebildet. Alle diese Wesen, die man so gesehen hat, haben etwas zu tun mit dem, was man die Katzen nennt. Aber nehmen wir an, man machte das Folgende. Man habe ein reiches Leben durchgemacht und zwar ein solches Leben, das einen zusammengebracht hat mit recht vielen Katzenbesitzern oder -besitzerinnen, und dabei habe man gefunden, daß eine große Anzahl von Katzen-besitzern ihre Katze «Mufti» genannt haben. Da man das in sehr vielen Fällen gefunden hat, so faßt man alle die Wesen, die man mit dem Namen Mufti belegt gefunden hat, zusammen unter dem Namen «die Mufti». Außerlich angesehen, haben wir den allgemeinen Begriff Katzen und den allgemeinen Begriff Mufti. Dasselbe Faktum liegt vor, der allgemeine Begriff; und zahlreiche Einzelwesen gehören beide Male unter den allgemeinen Begriff. Dennoch wird niemand behaupten, daß der allgemeine Begriff Mufti eine gleiche Bedeutung habe mit dem allgemeinen Begriffe Katzen. Hier haben Sie in der Realität den Unterschied wirklich gegeben. Das heißt, bei dem, was man verübt hat, indem man den allgemeinen Begriff Mufti gebildet hat, der nur eine Zusammenfassung #SE151-032 von Namen ist, die als Eigennamen gelten müssen, dabei hat man sich nach dem Nominalismus gerichtet und mit Recht; und indem man den allgemeinen Begriff Katzen gebildet hat, hat man sich nach dem Realismus gerichtet und mit Recht. Für den einen Fall ist der Nominalismus richtig, für den anderen der Realismus. Beide sind richtig. Man muß nur diese Dinge in ihren richtigen Grenzen anwenden. Und wenn die beiden richtig sind, dann ist es nicht zu verwundern, wenn man gute Gründe für das eine oder das andere aufbringen kann. Ich habe nur ein etwas groteskes Beispiel mit dem Namen Mufti gebraucht. Aber ich könnte ein viel bedeutsameres Beispiel Ihnen anführen und will dieses Beispiel gerade einmal vor Ihnen ins Auge fassen. Es gibt ein ganzes Gebiet im Umkreis unserer äußeren Erfahrung, für welches der Nominalismus, das heißt die Vorstellung, daß das Zusammenfassende nur ein Name ist, seine volle Berechtigung hat. Es gibt «eins», es gibt «zwei», es gibt «drei», «vier», «fünf» und so weiter. Aber unmöglich kann jemand, der die Sachlage überschaut, in dem Ausdruck «Zahl» etwas finden, was wirklich eine Existenz hat. Die Zahl hat keine Existenz. «Eins», «zwei», «drei», «fünf», «sechs» und so weiter, das hat Existenz. Das aber, was ich gestern gesagt habe, daß man, um den allgemeinen Begriff zu finden, das Entsprechende in Bewegung übergehen lassen soll, kann man bei dem Begriffe Zahl nicht machen. Denn die Eins geht nie in die Zwei über; man muß immer eins dazugeben. Auch nicht im Gedanken geht die Eins in die Zwei über, die Zwei in die Drei auch nicht. Es existieren nur einzelne Zahlen, nicht die Zahl im allgemeinen. Für das, was in den Zahlen vorhanden ist, ist der Nominalismus absolut richtig; für das, was so vorhanden ist wie das einzelne Tier gegenüber seiner Gatung, ist der Realismus absolut richtig. Denn unmöglich kann ein Hirsch und wieder ein Hirsch und wieder ein Hirsch existieren, ohne daß die Gattung Hirsch existiert. «Zwei» kann für sich existieren, «eins», «sieben» und so weiter kann für sich existieren. Insofern aber das Wirkliche in der Zahl auftritt, ist das, was Zahl ist, eine Eigenschaft, und der Ausdruck Zahl hat keine irgendwie geartete Existenz. Ein Unterschied ist eben zwischen den äußeren Dingen und ihrer Beziehung zu den allgemeinen Begriffen, und das eine #SE151-033 muß im Stile des Nominalismus, das andere im Stile des Realismus behandelt werden. Auf diese Weise kommen wir, indem wir den Gedanken einfach die richtige Richtung geben, zu etwas ganz anderem. Jetzt beginnen wir zu verstehen, warum so viele Weltanschauungsstreitigkeiten in der Welt existieren. Die Menschen sind im allgemeinen nicht geneigt, wenn sie eines begriffen haben, auch noch das andere zu begreifen. Wenn einer einmal auf einem Gebiete begriffen hat: Allgemeine Begriffe haben keine Existenz -, so verallgemeinert er das, was er erkannt hat, auf die ganze Welt und ihre Einrichtung. Dieser Satz: allgemeine Begriffe haben keine Existenz - ist nicht falsch; denn er ist für das Gebiet, das der Betreffende angeschaut hat, richtig. Falsch ist nur die Verallgemeinerung. Es ist so wesentlich, wenn man überhaupt über das Denken sich eine Vorstellung machen will, daß man sich darüber klar wird, daß die Wahrheit eines Gedankens auf seinem Gebiete noch nichts aussagt über die allgemeine Gültigkeit eines Gedankens. Ein Gedanke kann durchaus auf seinem Gebiete richtig sein; aber nichts wird dadurch ausgemacht über die allgemeine Gültigkeit des Gedankens. Beweist man mir daher dieses oder jenes, und beweist man es mir noch so richtig, unmöglich kann es sein, dieses also Bewiesene auf ein Gebiet anzuwenden, auf das es nicht hingehört. Es ist daher notwendig, daß sich der, welcher sich ernsthaft mit den Wegen beschäftigen will, die zu einer Weltanschauung führen, vor allen Dingen damit bekannt macht, daß Einseitigkeit der größte Feind aller Weltanschauungen ist und daß es vor allen Dingen nötig ist, die Einseitigkeit zu meiden. Einseitigkeit müssen wir meiden. Das ist das, worauf ich insbesondere heute hindeuten will, wie wir nötig haben, Einseitigkeiten zu meiden. Fassen wir zunächst heute das, was in den nächsten Vorträgen im einzelnen seine Erklärung finden soll, so ins Auge, daß wir uns zunächst einen Überblick darüber verschaffen. Es kann Menschen geben, welche einmal so veranlagt sind, daß es ihnen unmöglich ist, den Weg zum Geiste zu finden. Es wird schwer werden, solchen Menschen das Geistige jemals zu beweisen. Sie bleiben bei dem stehen, wovon sie etwas wissen, wovon etwas zu wissen sie veranlagt sind. Sie bleiben, sagen wir, bei dem stehen, was den grobklotzigsten #SE151-034 Eindruck auf sie macht, beim Materialismus. Man hat nicht nötig, das, was von den Materialisten zur Verteidigung, zum Beweise des Materialismus aufgebracht worden ist, immer töricht zu finden, denn es ist ungeheuer viel Scharfsinniges auf diesem Gebiete geschrieben worden. Was geschrieben worden ist, das gilt zunächst für das materielle Gebiet des Lebens, gilt für die Welt des Materiellen und ihre Gesetze. Andere Menschen kann es geben, die sind durch eine gewisse Innerlichkeit von vornherein dazu veranlagt, in allem Materiellen nur die Offenbarung des Geistigen zu sehen. Sie wissen natürlich so gut wie die Materialisten, daß äußerlich Materielles vorhanden ist; aber sie sagen: Das Materielle ist nur die Offenbarung, die Manifestation des zugrunde liegenden Geistigen. Solche Menschen interessieren sich vielleicht gar nicht besonders für die materielle Welt und ihre Gesetze. Sie gehen vielleicht, indem sie in sich alles bewegen, was ihnen Vorstellungen vom Geistigen geben kann, mit dem Bewußtsein durch die Welt: Das Wahre, das Hohe, das, womit man sich beschäftigen soll, was wirklich Realität hat, ist doch nur der Geist; die Materie ist doch nur Täuschung, ist nur eine äußere Phantasmagorie. Es wäre das ein extremer Standpunkt, aber es kann ihn geben, und er kann bis zu einer völligen Leugnung des materiellen Lebens führen. Wir würden von solchen Menschen sagen müssen: Sie erkennen voll an, was allerdings das Realste ist, den Geist; aber sie sind einseitig, sie leugnen die Bedeutung des Materiellen und seiner Gesetze. Viel Scharfsinn wird sich aufbringen lassen, um die Weltanschauung solcher Menschen zu vertreten. Nennen wir die Weltanschauung solcher Menschen Spiritualismus. Kann man sagen, daß die Spiritualisten recht haben? Für den Geist werden ihre Behauptungen außerordentlich Richtiges zutage fördern können, doch über das Materielle und seine Gesetze werden sie vielleicht wenig Bedeutsames zutage fördern können. Kann man sagen, daß die Materialisten mit ihren Behauptungen recht haben? Ja, über die Materie und ihre Gesetze werden sie vielleicht außerordentlich Nützliches und Wertvolles zutage fördern können; wenn sie aber über den Geist sprechen, dann werden sie vielleicht nur Torheiten herausbringen. Wir müssen also sagen: Für ihre Gebiete haben die Bekenner dieser Weltanschauungen recht. #SE151-035 Es kann Menschen geben, die sagen: Ja, ob es nun in der Welt der Wahrheit nur Materie oder nur Geist gibt, darüber kann ich nichts Besonderes wissen; darauf kann sich das menschliche Erkenntnisvermögen überhaupt nicht beziehen. Klar ist nur das eine, daß eine Welt um uns ist, die sich ausbreitet. Ob ihr das zugrunde liegt, was die Chemiker, die Physiker, wenn sie Materialisten werden, die Atome der Materie nennen, das weiß ich nicht. Ich erkenne aber die Welt an, die um mich herum ausgebreitet ist; die sehe ich, über die kann ich denken. Ob ihr noch ein Geist zugrunde liegt oder nicht, darüber etwas anzunehmen, habe ich keine besondere Veranlassung. Ich halte mich an das, was um mich herum ausgebreitet ist. - Solche Menschen kann man aus den eben gemachten Auseinandersetzungen heraus Realisten nennen und ihre Weltanschauung Realismus. Genau ebenso, wie man unendlichen Scharfsinn aufbringen kann für den Materialismus wie für den Spiritualismus und wie man daneben auch sehr Scharfsinniges über den Spiritualismus und die größten Torheiten über das Materielle sagen kann, wie man sehr scharfsinnig über die Materie und sehr töricht über das Spirituelle sprechen kann, so kann man die scharfsinnigsten Gründe für den Realismus aufbringen, der weder Spiritualismus noch Materialismus ist, sondern das, was ich eben jetzt charakterisiert habe. Es kann aber noch andere Menschen geben, die etwa folgendes sagen. Um uns herum ist die Materie und die Welt der materiellen Erscheinungen. Aber die Welt der materiellen Erscheinungen ist eigentlich in sich sinnleer. Sie hat keinen rechten Sinn, wenn nicht in ihr jene Tendenz liegt, die sich eben bewegt nach vorwärts, wenn nicht aus dieser Welt, die da um uns herum ausgebreitet ist, das geboren werden kann, wonach die Menschenseele sich richten kann als nicht in der Welt enthalten, die um uns herum ausgebreitet ist. Es muß nach der Anschauung solcher Menschen das Ideelle und das Ideale im Weltprozesse drinnen sein. Solche Menschen geben den realen Weltprozessen ihr Recht. Sie sind nicht Realisten, trotzdem sie dem realen Leben recht geben, sondern sie sind der Anschauung, das reale Leben muß durchtendiert werden von dem Ideellen, nur dann bekommt es einen Sinn. - In einem Anfluge von solcher Stimmung hat Fichte einmal gesagt: Alle Welt, die sich um uns herum ausbreitet, ist das versinnlichte Material für die Pflichterfüllung. - Die Vertreter solcher Weltanschauung, die alles nur Mittel sein läßt für Ideen, die den Weltprozeß durchdringen, kann man Idealisten nennen und ihre Weltanschauung Idealismus. Schönes und Großes und Herrliches ist für diesen Idealismus vorgebracht worden. Und auf dem Gebiete, das ich eben charakterisiert habe, wo es darauf ankommt, zu zeigen, wie die Welt zweck- und sinnlos wäre, wenn die Ideen nur menschliche Phantasiegebilde wären und nicht im Weltprozesse drinnen wirklich begründet wären, auf diesem Gebiete hat der Idealismus seine volle Bedeutung. Aber mit diesem Idealismus kann man zum Beispiel die äußere Wirklichkeit, die äußere Realität des Realistischen nicht erklären. Daher hat man zu unterscheiden von den anderen eine Weltanschauung, die Idealismus genannt werden kann.