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Rudolf Steiner:

Der menschlische und der kosmische Gedanke

Erster Vortrag
Sweiter Vortrag
Dritter Vortrag
Vierter Vortrag

Sweiter Vortrag, Berlin, 21. Januar 1914

Im Grunde genommen macht die Beschäftigung mit der Geisteswissen­schaft ein nebenhergehendes, fortwährendes praktisches Leben in den geistigen Verrichtungen notwendig. Es ist eigentlich unmöglich, über die mancherlei Dinge, die gestern besprochen worden sind, zur völligen Klarheit zu kommen, wenn man nicht versucht, durch eine Art lebendigen Erfassens der Verrichtungen des geistigen Lebens, namentlich des denkerischen Lebens auch, mit den Dingen zurechtzukommen. Denn warum ist es im Geistesleben so, daß zum Beispiel Unklarheit herrscht über die Beziehungen der allgemeinen Begriffe, des Dreiecks im allgemeinen, zu den besonderen Vorstellungen der einzelnen Dreiecke bei Leuten, die sich gerade berufsmäßig denkerisch mit den Dingen beschäftigen? Woher kommen denn solche ganze Jahrhunderte beschäf­tigende Dinge, wie das gestern angeführte Beispiel mit den hundert möglichen und den hundert wirklichen kantischen Talern? Woher kommt es denn, daß man die einfachsten Überlegungen nicht anstellt, die notwendig wären, um einzusehen, daß es so etwas wie eine prag­matische Geschichtsschreibung, wonach immer das Folgende aus dem Vorhergehenden sich herleitet, nicht geben kann? Woher kommt es, daß eine solche Überlegung nicht angestellt wird, die einen stutzig machen würde in bezug auf das, was in den weitesten Kreisen als eine eben unmögliche Art der Auffassung menschlicher Geschichte sich verbreitet hat? Woher kommen alle diese Dinge?

Sie kommen davon her, daß man sich wirklich auch dort, wo es sein sollte, viel zuwenig Mühe gibt, in einer präzisen Art die Verrichtungen des geistigen Lebens handhaben zu lernen. In unserer Zeit will ja jeder wenigstens das Folgende berechtigterweise beanspruchen können, er will sagen können: Denken, nun selbstverständlich, das kann man doch. Also fängt man an zu denken. Da gibt es Weltanschauungen in der Welt. Viele, viele Philosophen haben existiert. Man merkt, der eine hat dies, der andere jenes gesagt.

Nun, dass das auch so halbwegs gescheite Leute waren, die auf vieles aufmerksam machen konnten. Was man selber als Widerspruch bei ihnen findet, darüber reflektiert man nicht, darüber denkt man nicht nach. Aber man tut sich um so mehr darauf zugute, daß man doch «denken» kann. Also man kann nachdenken, was die Leute da gedacht haben, und ist überzeugt davon, daß man schon selber das Rechte finden werde. Denn man darf heute nicht auf Autorität etwas geben! Das widerspricht der Würde der Menschen-natur. Man muß selber denken. Auf dem Gebiete des Denkens hält man das durchaus so.

Ich weiß nicht, ob die Leute sich überlegt haben, daß sie es auf allen anderen Gebieten des Lebens nicht so halten. So fühlt sich zum Beispiel keiner dem Autoritätsglauben oder der Autoritätssucht hingegeben, wenn er sich seinen Rock beim Schneider oder seine Schuhe beim Schuh­macher machen läßt. Er sagt nicht: Das ist unter der Würde des Men­schen, daß man sich die Dinge von Menschen machen läßt, von denen man wissen kann, daß sie die entsprechenden Dinge handhaben können. Ja, man gibt vielleicht sogar zu, daß man diese Dinge lernen müsse. Bezüglich des Denkens gibt man das im praktischen Leben nicht zu, daß man Weltanschauungen auch haben müsse von dorther, wo man Denken und noch manches andere gelernt hat. Das wird man heute wirklich in den wenigsten Fällen zugeben.

Das ist eines, was unser Leben in den weitesten Kreisen beherrscht, was geradezu dazu beiträgt, daß der menschliche Gedanke in unserer Zeit kein sehr verbreitetes Produkt ist. Ich denke, man könnte das ja auch begreiflich finden. Denn nehmen wir an, es würden einmal alle Menschen sagen: Stiefel machen lernen, das ist eine längst nicht mehr menschenwürdige Sache; wir machen einmal alle Stiefel,- so weiß ich nicht, ob dabei lauter gute Stiefel herauskommen würden. Aber jeden­falls gehen in bezug auf das Prägen richtiger Gedanken in der Weltanschauung die Menschen in der Gegenwart meistens von solchen Gedanken aus.

Das ist das eine, was dazu beiträgt, daß der Satz, den ich gestern gesprochen habe, schon seine tiefere Bedeutung hat: daß der Gedanke zwar dasjenige ist, in dem der Mensch sozusagen völlig drin­nen ist und den er daher in seinem Innenwesen überschauen kann, daß aber der Gedanke nicht so verbreitet ist, als man denken möchte. Dazu kommt allerdings in unserer Zeit noch eine ganz besondere Prätention, die allmählich darauf hinauslaufen könnte, jede Klarheit über den Ge­danken überhaupt zu trüben. Auch damit muß man sich beschäftigen. Man muß wenigstens einmal den Blick darauf wenden.

Nehmen wir einmal folgendes an: Es hätte in Görlitz einen Schuh­macher namens Jakob Böhme gegeben. Und jener Schuhmacher namens Jakob Böhme hätte das Schuhmacherhandwerk gelernt, hätte gut ge­lernt, wie man Sohlen zuschneidet, wie man den Schuh über den Leisten formt, wie man Nägel in Sohlen und Leder hineintreibt und so weiter. Das hätte er alles aus dem Fundament heraus klar gewußt und ge­konnt. Nun wäre dieser Schuhmacher namens Jakob Böhme hergegan-gen und hätte gesagt: Jetzt will ich einmal sehen, wie die Welt konstruiert ist. Nun, ich nehme einmal an, der Welt liegt zugrunde ein großer Leisten. Über diesen Leisten sei einmal das Weltenleder dar­übergezogen worden. Dann wären die Weltennägel genommen worden, und man hätte die Weltensohle durch Weltennägel in Verbindung ge­bracht mit dem Weltenlederüberzug. Dann hätte man die Welten­schuhwichse genommen und den ganzen Weltenschuh gewichst. So kann ich mir erklären, daß es am Morgen hell wird. Da glänzt eben die Schuhwichse der Welt. Und wenn diese Schuhwichse der Welt am Abend übertüncht ist von allem möglichen, so glänzt sie dann nicht mehr. Daher stelle ich mir vor, daß irgend jemand in der Nacht zu tun hat, um den Weltenstiefel neu zu wichsen. Und so entsteht der Unter­schied zwischen Tag und Nacht.

Nehmen wir an, Jakob Böhme hätte dies gesagt. Ja, Sie lachen, weil Jakob Böhme dies allerdings nicht gesagt hat, sondern er hat für die Görlitzer Bürgerschaft anständige Schuhe gemacht, hat dazu seine Schuhmacherkunst benutzt. Er hat aber auch seine grandiosen Gedan­ken entfaltet, durch die er eine Weltanschauung aufbauen wollte. Da hat er zu anderem gegriffen. Er hat sich gesagt: Da würden meine Ge­danken des Schuhmachens nicht ausreichen; denn will ich Weltgedan­ken haben, so darf ich nicht Gedanken, durch die ich Schuhe mache für die Leute, auf das Weltgebäude anwenden. Und er ist zu seinen er­habenen Gedanken über die Weit gekommen. Also jenen Jakob Böhme, den ich zuerst in der Hypothese konstruiert habe, hat es in Görlitz #SE151-028 nicht gegeben, sondern jenen anderen, der gewußt hat, wie man es macht. Aber jene hypothetischen Jakob Böhmes, die so sind wie jener, über den Sie gelacht haben, die existieren heute überall. Da finden wir zum Beispiel Physiker, Chemiker. Sie haben die Gesetze gelernt, nach denen man Stoffe in der Welt verbindet und trennt. Da gibt es Zoologen, die haben gelernt, wie man Tiere untersucht und beschreibt. Da giht es Mediziner, die haben gelernt, wie man den physischen Menschenleib und das, was sie die Seele nennen, zu behandeln hat. Was tun diese? Sie sagen: Wenn man eine Weltanschauung sich suchen will, so nimmt man die Gesetze, die man in der Chemie, in der Physik oder in der Phy­siologie gelernt hat - andere darf es nicht geben -, und daraus kon­struiert man sich eine Weltanschauung. Genauso machen es diese Men­schen, wie es der eben hypothetisch konstruierte Schuhmacher gemacht hätte, wenn er den Weltenstiefel konstruiert hätte. Nur merkt man nicht, daß methodisch die Weltanschauungen genau ebenso zustande kommen wie jener hypothetische Weltenstiefel. Es sieht allerdings etwas grotesk aus, wenn man sich den Unterschied von Tag und Nacht durch Abnutzen des Schuhleders und durch Wichsen in der Nacht vor­stellt. Aber vor einer wahren Logik ist es im Prinzip genau dasselbe, als wenn man mit den Gesetzen der Chemie, der Physik, der Biologie und Physiologie ein Weltgebäude zustande bringen will. Ganz genau dasselbe Prinzip! Es ist die ungeheure Überhebung des Physikers, des Chemikers, des Physiologen, des Biologen, die nichts anderes sein wol­len als Physiker, Chemiker, Physiologen, Biologen und dennoch über die ganze Welt ein Urteil haben wollen. Es handelt sich eben überall darum, daß man den Dingen auf den Grund geht und daß man es auch nicht vermeidet, durch Zurückfüh­rung desjenigen, was nicht so durchsichtig ist, auf seine wahre Formel, ein wenig hineinzuleuchten in die Dinge. Wenn man also methodisch-logisch das alles ins Auge faßt, dann braucht man sich nicht zu ver­wundern, daß bei so vielen Weltanschauungsversuchen der Gegenwart eben nichts anderes herauskommt als der «Weltenstiefel». Und das ist so etwas, was hinweisen kann auf die Beschäftigung mit der Geistes-wissenschaft und auf die Beschäftigung mit praktischen Denkverrichtungen, #SE151-029 was einen geneigt machen kann, sich damit zu beschäftigen, wie man denken muß, damit man durchschauen kann, wo Unzulänglich­keiten in der Welt vorhanden sind. Ein anderes möchte ich anführen, um zu zeigen, wo die Wurzel un­zähliger Mißverständnisse gegenüber den Weltauffassungen liegt. Macht man denn nicht, wenn man sich mit Weltanschauungen beschäftigt, immer wieder und wieder die Erfahrung: da glaubt der eine dieses, der andere jenes; der eine verteidigt mit manchmal guten Gründen - denn gute Gründe kann man für alles finden - das eine, der andere mit ebenso guten Gründen das andere; und der eine widerlegt das eine ebenso gut, wie der andere das andere mit guten Gründen widerlegt? Anhängerschaften entstehen ja in der Welt zunächst nicht dadurch, daß der eine oder der andere auf gerechtem Wege überzeugt wird von dem, wa da oder dort gelehrt wird. Nehmen Sie nur einmal die Wege, die die Schüler großer Männer wandeln müssen, um zu dem oder jenem großen Manne hinzukommen, dann werden Sie sehen, daß darin für uns zwar etwas Gewichtiges in bezug auf das Karma liegt, aber hin­sichtlich der Anschauungen, die heute in der äußeren Welt existieren, muß man sagen: Ob der eine nun ein Bergsonianer oder ein Haecke­lianer oder dies oder jenes wird, das ist - wie gesagt, Karma erkennt ja die heutige äußere Weltanschauung nicht an -, das ist schließlich wirk­lich von anderen Dingen abhängig als davon, daß man durchaus nur auf dem Wege der tiefsten Überzeugung dem anhängt, zu dem man gerade geführt worden ist. Gekämpft wird hinüber und herüber. Und ich habe gestern gesagt: Es gab einmal Nominalisten, solche Menschen, welche behaupteten, die allgemeinen Begriffe hätten überhaupt keine Realität, wären bloße Namen. Sie haben Gegner gehabt, diese Nomi­nalisten. Man nannte in der damaligen Zeit - das Wort hatte damals eine andere Bedeutung als heute - die Gegner der Nominalisten Rea­listen. Diese behaupteten: Die allgemeinen Begriffe sind nicht bloß Worte, sondern sie beziehen sich auf eine ganz bestimmte Realität. Im Mittelalter wurde ja die Frage «Realismus oder Nominalismus» ganz besonders für die Theologie eine brennende auf einem Gebiete, das heute die Denker nur noch wenig beschäftigt. Denn in der Zeit, als die Frage «Nominalismus oder Realismus» auftauchte, im elften bis dreizehnten #SE151-030 Jahrhundert, da war etwas, was zu dem wichtigsten mensch­lichen Bekenntnisse gehörte, die Frage nach den drei «göttlichen Per­sonen», Vater, Sohn und Heiliger Geist, die ein göttliches Wesen bil­den, die aber doch drei wahre Personen sein sollten. Und die Nomina­listen behaupteten: Diese drei göttlichen Personen existieren nur im einzelnen, «Vater» für sich, «Sohn» für sich, «Geist» für sich; und wenn man von einem gemeinsamen Gotte spricht, der diese drei umfaßt, so ist das nur ein Name für die Drei. - So schaffte der Nominalismus die Einheit in der Trinität hinweg, und die Nominalisten erklärten gegen­über den Realisten die Einheit nicht nur hinweg, sondern sie hielten sogar für ketzerisch, was die Realisten behaupteten, daß die drei Per­sonen nicht bloß eine gedachte, sondern eine reale Einheit bilden sollten. Nominalismus und Realismus waren also Gegensätze. Und wahr­haftig, wer sich in die Literatur vertieft, die aus dem Nominalismus und Realismus hervorgegangen ist in den gekennzeichneten Jahrhun­derten, der bekommt einen tiefen Einblick in das, was menschlicher Scharfsinn aufbringen kann, denn sowohl für den Nominalismus wie für den Realismus sind die scharfsinnigsten Gründe aufgebracht wor­den. Es war ja damals schwieriger, ein solches Denken sich anzueignen, weil es damals noch keine Buchdruckerkunst gab und man durchaus nicht so leicht dazu kam, sich an solchen Streitigkeiten zu beteiligen, wie es zum Beispiel die zwischen Nominalisten und Realisten waren; so daß der, welcher sich an solchen Streiten beteiligte, im Sinne der damaligen Zeit viel besser vorbereitet sein mußte, als heute Menschen vorbereitet sind, die sich an den Streiten beteiligen. Eine Unsumme von Scharfsinn ist aufgeboten worden, um den Realismus zu verteidigen, eine andere Unsumme von Scharfsinn ist aufgeboten worden, um den Nominalismus zu verteidigen. Woher kommt so etwas? Es ist doch betrüblich, daß es so etwas gibt. Wenn man tiefer nachdenkt, muß man sagen, daß es betrüblich ist, daß es so etwas gibt. Denn man kann sich, wenn man tiefer nachdenkt, doch sagen: Was nützt es dir denn, daß du gescheit bist? Du kannst gescheit sein und den Nominalismus vertei­digen, und du kannst auch gescheit sein und den Nominalismus wider­legen. Man kann irre werden an der ganzen Gescheitheit! Es ist betrüblich, #SE151-031 auch nur einmal hinzuhorchen auf das, was mit solchen Charak­teristiken gemeint ist. Nun wollen wir einmal dem eben Gesagten etwas gegenüberstellen, was vielleicht gar nicht einmal so scharfsinnig ist wie vieles, was für den Nominalismus oder für den Realismus aufgebracht worden ist, was aber vielleicht gegenüber dem vielen einen Vorzug hat: daß es gerades-wegs auf das Ziel los geht, das heißt, daß es die Richtung findet, in der man zu denken hat. Nehmen Sie einmal an, Sie versetzten sich in die Art, wie man all­gemeine Begriffe bildet, wie man eine Menge von Einzelheiten zusam­menfaßt. Auf zweifache Weise kann man - zunächst an einem Beispiele -Einzelheiten zusammenfassen. Man kann da so, wie das der Mensch in seinem Leben tut, durch die Welt schlendern und eine Reihe gewisser Tiere sehen, welche seidig oder wollig, verschieden gefärbt sind, Schnauzhaare haben, und die zu gewissen Zeiten eine eigentümliche, an das menschliche Waschen erinnernde Tätigkeit verrichten, die Mäuse fressen und so weiter. Man kann solche Wesen, die man so beobachtet hat, Katzen nennen. Dann hat man einen allgemeinen Begriff gebildet. Alle diese Wesen, die man so gesehen hat, haben etwas zu tun mit dem, was man die Katzen nennt. Aber nehmen wir an, man machte das Folgende. Man habe ein rei­ches Leben durchgemacht und zwar ein solches Leben, das einen zusam­mengebracht hat mit recht vielen Katzenbesitzern oder -besitzerinnen, und dabei habe man gefunden, daß eine große Anzahl von Katzen-besitzern ihre Katze «Mufti» genannt haben. Da man das in sehr vielen Fällen gefunden hat, so faßt man alle die Wesen, die man mit dem Namen Mufti belegt gefunden hat, zusammen unter dem Namen «die Mufti». Außerlich angesehen, haben wir den allgemeinen Begriff Kat­zen und den allgemeinen Begriff Mufti. Dasselbe Faktum liegt vor, der allgemeine Begriff; und zahlreiche Einzelwesen gehören beide Male unter den allgemeinen Begriff. Dennoch wird niemand behaupten, daß der allgemeine Begriff Mufti eine gleiche Bedeutung habe mit dem all­gemeinen Begriffe Katzen. Hier haben Sie in der Realität den Unter­schied wirklich gegeben. Das heißt, bei dem, was man verübt hat, in­dem man den allgemeinen Begriff Mufti gebildet hat, der nur eine Zusammenfassung #SE151-032 von Namen ist, die als Eigennamen gelten müssen, da­bei hat man sich nach dem Nominalismus gerichtet und mit Recht; und indem man den allgemeinen Begriff Katzen gebildet hat, hat man sich nach dem Realismus gerichtet und mit Recht. Für den einen Fall ist der Nominalismus richtig, für den anderen der Realismus. Beide sind rich­tig. Man muß nur diese Dinge in ihren richtigen Grenzen anwenden. Und wenn die beiden richtig sind, dann ist es nicht zu verwundern, wenn man gute Gründe für das eine oder das andere aufbringen kann. Ich habe nur ein etwas groteskes Beispiel mit dem Namen Mufti ge­braucht. Aber ich könnte ein viel bedeutsameres Beispiel Ihnen an­führen und will dieses Beispiel gerade einmal vor Ihnen ins Auge fassen. Es gibt ein ganzes Gebiet im Umkreis unserer äußeren Erfahrung, für welches der Nominalismus, das heißt die Vorstellung, daß das Zu­sammenfassende nur ein Name ist, seine volle Berechtigung hat. Es gibt «eins», es gibt «zwei», es gibt «drei», «vier», «fünf» und so wei­ter. Aber unmöglich kann jemand, der die Sachlage überschaut, in dem Ausdruck «Zahl» etwas finden, was wirklich eine Existenz hat. Die Zahl hat keine Existenz. «Eins», «zwei», «drei», «fünf», «sechs» und so weiter, das hat Existenz. Das aber, was ich gestern gesagt habe, daß man, um den allgemeinen Begriff zu finden, das Entsprechende in Be­wegung übergehen lassen soll, kann man bei dem Begriffe Zahl nicht machen. Denn die Eins geht nie in die Zwei über; man muß immer eins dazugeben. Auch nicht im Gedanken geht die Eins in die Zwei über, die Zwei in die Drei auch nicht. Es existieren nur einzelne Zahlen, nicht die Zahl im allgemeinen. Für das, was in den Zahlen vorhanden ist, ist der Nominalismus absolut richtig; für das, was so vorhanden ist wie das einzelne Tier gegenüber seiner Gatung, ist der Realismus absolut rich­tig. Denn unmöglich kann ein Hirsch und wieder ein Hirsch und wieder ein Hirsch existieren, ohne daß die Gattung Hirsch existiert. «Zwei» kann für sich existieren, «eins», «sieben» und so weiter kann für sich existieren. Insofern aber das Wirkliche in der Zahl auftritt, ist das, was Zahl ist, eine Eigenschaft, und der Ausdruck Zahl hat keine irgendwie geartete Existenz. Ein Unterschied ist eben zwischen den äußeren Din­gen und ihrer Beziehung zu den allgemeinen Begriffen, und das eine #SE151-033 muß im Stile des Nominalismus, das andere im Stile des Realismus behandelt werden. Auf diese Weise kommen wir, indem wir den Gedanken einfach die richtige Richtung geben, zu etwas ganz anderem. Jetzt beginnen wir zu verstehen, warum so viele Weltanschauungsstreitigkeiten in der Welt existieren. Die Menschen sind im allgemeinen nicht geneigt, wenn sie eines begriffen haben, auch noch das andere zu begreifen. Wenn einer einmal auf einem Gebiete begriffen hat: Allgemeine Begriffe ha­ben keine Existenz -, so verallgemeinert er das, was er erkannt hat, auf die ganze Welt und ihre Einrichtung. Dieser Satz: allgemeine Begriffe haben keine Existenz - ist nicht falsch; denn er ist für das Gebiet, das der Betreffende angeschaut hat, richtig. Falsch ist nur die Verallge­meinerung. Es ist so wesentlich, wenn man überhaupt über das Denken sich eine Vorstellung machen will, daß man sich darüber klar wird, daß die Wahrheit eines Gedankens auf seinem Gebiete noch nichts aussagt über die allgemeine Gültigkeit eines Gedankens. Ein Gedanke kann durchaus auf seinem Gebiete richtig sein; aber nichts wird dadurch aus­gemacht über die allgemeine Gültigkeit des Gedankens. Beweist man mir daher dieses oder jenes, und beweist man es mir noch so richtig, un­möglich kann es sein, dieses also Bewiesene auf ein Gebiet anzuwenden, auf das es nicht hingehört. Es ist daher notwendig, daß sich der, wel­cher sich ernsthaft mit den Wegen beschäftigen will, die zu einer Welt­anschauung führen, vor allen Dingen damit bekannt macht, daß Ein­seitigkeit der größte Feind aller Weltanschauungen ist und daß es vor allen Dingen nötig ist, die Einseitigkeit zu meiden. Einseitigkeit müssen wir meiden. Das ist das, worauf ich insbesondere heute hindeuten will, wie wir nötig haben, Einseitigkeiten zu meiden. Fassen wir zunächst heute das, was in den nächsten Vorträgen im einzelnen seine Erklärung finden soll, so ins Auge, daß wir uns zunächst einen Überblick darüber verschaffen. Es kann Menschen geben, welche einmal so veranlagt sind, daß es ihnen unmöglich ist, den Weg zum Geiste zu finden. Es wird schwer werden, solchen Menschen das Geistige jemals zu beweisen. Sie bleiben bei dem stehen, wovon sie etwas wissen, wovon etwas zu wissen sie veranlagt sind. Sie bleiben, sagen wir, bei dem stehen, was den grobklotzigsten #SE151-034 Eindruck auf sie macht, beim Materialismus. Man hat nicht nötig, das, was von den Materialisten zur Verteidigung, zum Beweise des Materialismus aufgebracht worden ist, immer töricht zu finden, denn es ist ungeheuer viel Scharfsinniges auf diesem Gebiete geschrieben wor­den. Was geschrieben worden ist, das gilt zunächst für das materielle Gebiet des Lebens, gilt für die Welt des Materiellen und ihre Gesetze. Andere Menschen kann es geben, die sind durch eine gewisse Inner­lichkeit von vornherein dazu veranlagt, in allem Materiellen nur die Offenbarung des Geistigen zu sehen. Sie wissen natürlich so gut wie die Materialisten, daß äußerlich Materielles vorhanden ist; aber sie sagen: Das Materielle ist nur die Offenbarung, die Manifestation des zu­grunde liegenden Geistigen. Solche Menschen interessieren sich viel­leicht gar nicht besonders für die materielle Welt und ihre Gesetze. Sie gehen vielleicht, indem sie in sich alles bewegen, was ihnen Vorstellun­gen vom Geistigen geben kann, mit dem Bewußtsein durch die Welt: Das Wahre, das Hohe, das, womit man sich beschäftigen soll, was wirk­lich Realität hat, ist doch nur der Geist; die Materie ist doch nur Täu­schung, ist nur eine äußere Phantasmagorie. Es wäre das ein extremer Standpunkt, aber es kann ihn geben, und er kann bis zu einer völligen Leugnung des materiellen Lebens führen. Wir würden von solchen Menschen sagen müssen: Sie erkennen voll an, was allerdings das Realste ist, den Geist; aber sie sind einseitig, sie leugnen die Bedeutung des Ma­teriellen und seiner Gesetze. Viel Scharfsinn wird sich aufbringen las­sen, um die Weltanschauung solcher Menschen zu vertreten. Nennen wir die Weltanschauung solcher Menschen Spiritualismus. Kann man sagen, daß die Spiritualisten recht haben? Für den Geist werden ihre Behauptungen außerordentlich Richtiges zutage fördern können, doch über das Materielle und seine Gesetze werden sie vielleicht wenig Be­deutsames zutage fördern können. Kann man sagen, daß die Mate­rialisten mit ihren Behauptungen recht haben? Ja, über die Materie und ihre Gesetze werden sie vielleicht außerordentlich Nützliches und Wert­volles zutage fördern können; wenn sie aber über den Geist sprechen, dann werden sie vielleicht nur Torheiten herausbringen. Wir müssen also sagen: Für ihre Gebiete haben die Bekenner dieser Weltanschau­ungen recht. #SE151-035 Es kann Menschen geben, die sagen: Ja, ob es nun in der Welt der Wahrheit nur Materie oder nur Geist gibt, darüber kann ich nichts Be­sonderes wissen; darauf kann sich das menschliche Erkenntnisvermögen überhaupt nicht beziehen. Klar ist nur das eine, daß eine Welt um uns ist, die sich ausbreitet. Ob ihr das zugrunde liegt, was die Chemiker, die Physiker, wenn sie Materialisten werden, die Atome der Materie nen­nen, das weiß ich nicht. Ich erkenne aber die Welt an, die um mich herum ausgebreitet ist; die sehe ich, über die kann ich denken. Ob ihr noch ein Geist zugrunde liegt oder nicht, darüber etwas anzunehmen, habe ich keine besondere Veranlassung. Ich halte mich an das, was um mich herum ausgebreitet ist. - Solche Menschen kann man aus den eben gemachten Auseinandersetzungen heraus Realisten nennen und ihre Weltanschauung Realismus. Genau ebenso, wie man unendlichen Scharf­sinn aufbringen kann für den Materialismus wie für den Spiritualismus und wie man daneben auch sehr Scharfsinniges über den Spiritualismus und die größten Torheiten über das Materielle sagen kann, wie man sehr scharfsinnig über die Materie und sehr töricht über das Spirituelle sprechen kann, so kann man die scharfsinnigsten Gründe für den Rea­lismus aufbringen, der weder Spiritualismus noch Materialismus ist, sondern das, was ich eben jetzt charakterisiert habe. Es kann aber noch andere Menschen geben, die etwa folgendes sagen. Um uns herum ist die Materie und die Welt der materiellen Erschei­nungen. Aber die Welt der materiellen Erscheinungen ist eigentlich in sich sinnleer. Sie hat keinen rechten Sinn, wenn nicht in ihr jene Ten­denz liegt, die sich eben bewegt nach vorwärts, wenn nicht aus dieser Welt, die da um uns herum ausgebreitet ist, das geboren werden kann, wonach die Menschenseele sich richten kann als nicht in der Welt ent­halten, die um uns herum ausgebreitet ist. Es muß nach der Anschauung solcher Menschen das Ideelle und das Ideale im Weltprozesse drinnen sein. Solche Menschen geben den realen Weltprozessen ihr Recht. Sie sind nicht Realisten, trotzdem sie dem realen Leben recht geben, sondern sie sind der Anschauung, das reale Leben muß durchtendiert werden von dem Ideellen, nur dann bekommt es einen Sinn. - In einem Anfluge von solcher Stimmung hat Fichte einmal gesagt: Alle Welt, die sich um uns herum ausbreitet, ist das versinnlichte Material für die Pflichterfüllung. - Die Vertreter solcher Weltanschauung, die alles nur Mittel sein läßt für Ideen, die den Weltprozeß durchdringen, kann man Idealisten nennen und ihre Weltanschauung Idealismus. Schönes und Großes und Herrliches ist für diesen Idealismus vorgebracht worden. Und auf dem Gebiete, das ich eben charakterisiert habe, wo es darauf ankommt, zu zeigen, wie die Welt zweck- und sinnlos wäre, wenn die Ideen nur menschliche Phantasiegebilde wären und nicht im Weltprozesse drinnen wirklich begründet wären, auf diesem Gebiete hat der Idealismus seine volle Bedeutung. Aber mit diesem Idealismus kann man zum Beispiel die äußere Wirklichkeit, die äußere Realität des Realistischen nicht er­klären. Daher hat man zu unterscheiden von den anderen eine Welt­anschauung, die Idealismus genannt werden kann.

Wir haben jetzt schon vier nebeneinander berechtigte Weltanschau­ungen, von denen jede ihre Bedeutung hat für ihr besonderes Gebiet. Zwischen dem Materialismus und dem Idealismus ist ein gewisser Übergang. Der ganz grobe Materialismus - man kann ihn ja besonders in unserer Zeit, obwohl er heute schon im Abfluten ist, gut beobachten - wird darin bestehen, daß man bis zum Extrem ausbildet das Kan­tische Diktum - Kant selber hat es nicht getan! -, daß in den einzelnen Wissenschaften nur so viel wirkliche Wissenschaft ist, als darin Mathe­matik ist. Das heißt, man kann vom Materialisten zum Rechenknecht des Universums werden, indem man nichts anderes gelten läßt als die Welt, angefüllt mit materiellen Atomen. Sie stoßen sich, wirbeln durch­einander, und man rechnet dann aus, wie die Atome durcheinander-wirbeln. Da bekommt man sehr schöne Resultate heraus, was bezeugen mag, daß diese Weltanschauung ihre volle Berechtigung hat. So be­kommt man zum Beispiel die Schwingungszahlen für Blau, für Rot und so weiter; man bekommt die ganze Welt wie eine Art von mechanischem Apparat und kann diesen fein berechnen. Man kann aber etwas irre werden an dieser Sache. Man kann sich zum Beispiel sagen: Ja, aber wenn man eine noch so komplizierte Maschine hat, so kann doch aus dieser Maschine niemals, selbst wenn sie noch so kompliziert sich be­wegt, hervorgehen, wie man etwa blau, rot und so weiter empfindet. Wenn also das Gehirn nur eine komplizierte Maschine ist, so kann doch aus dem Gehirn nicht das hervorgehen, was man als Seelenerleb­nisse hat. Aber man kann dann sagen, wie einstmals Du Bois-Reymond gesagt hat: Man wird, wenn man die Welt nur mathematisch erklären will, zwar die einfachste Empfindung nicht erklären können; will man aber bei der mathematischen Erklärung nicht stehenbleiben, so wird man unwissenschaftlich. - Der grobe Materialist würde sagen: Nein, ich rechne auch nicht; denn das setzt schon einen Aberglauben voraus, den Aberglauben, daß ich annehme, daß die Dinge nach Maß und Zahl ge­ordnet sind. Und wer nun über diesen groben Materialismus sich er­hebt, wird ein mathematischer Kopf und läßt nur das als wirklich gelten, was eben in Rechenformeln gebracht werden kann. Das ergibt eine Weltanschauung, die eigentlich nichts gelten läßt als die mathema­tische Formel. Man kann sie Mathematismus nennen. Es kann sich aber einer nun überlegen und dann, nachdem er Mathe­matist gewesen ist, sich sagen: Das kann kein Aberglaube sein, daß die blaue Farbe so und so viele Schwingungen hat. Mathematisch ist nun einmal doch die Welt angeordnet. Warum sollten, wenn mathematische Ideen in der Welt verwirklicht sind, nicht auch andere Ideen in der Welt verwirklicht sein? Ein solcher nimmt an: es leben doch Ideen in der Welt. Aber er läßt nur diejenigen Ideen gelten, die er findet, nicht solche Ideen, die er von innen heraus etwa durch irgendeine Intuition oder Inspiration erfassen würde, sondern nur die, welche er von den äußerlich sinnlich-realen Dingen abliest. Ein solcher Mensch wird Ra­tionalist, und seine Weltanschauung ist Rationalismus. - Läßt man zu den Ideen, die man findet, auch noch diejenigen gelten, die man aus dem Moralischen, aus dem Intellektuellen heraus gewinnt, dann ist man schon Idealist. So geht ein Weg von dem grobklotzigen Materia­lismus über den Mathematismus und Rationalismus zum Idealismus.
Der Idealismus kann aber nun gesteigert werden. In unserer Zeit finden sich einige Menschen, welche den Idealismus zu steigern ver­suchen. Sie finden ja Ideen in der Welt. Wenn man Ideen findet, dann muß auch solche Wesensart in der Welt vorhanden sein, in der Ideen leben könnten. In irgendeinem äußeren Dinge könnten doch nicht so ohne weiteres Ideen leben. Ideen können auch nicht gleichsam in der Luft hängen. Es hat zwar im neunzehnten Jahrhundert den Glauben gegeben, daß Ideen die Geschichte beherrschen. Es war dies aber nur eine Unklarheit; denn Ideen als solche haben keine Kraft zum Wirken. Daher kann man von Ideen in der Geschichte nicht sprechen. Wer da einsieht, daß Ideen, wenn sie überhaupt da sein sollen, an ein Wesen gebunden sind, das Ideen eben haben kann, der wird nicht mehr bloßer Idealist sein, sondern er schreitet vor zu der Annahme, daß die Ideen an Wesen gebunden sind. Er wird Psychist, und seine Weltanschauung ist Psychismus. Der Psychist, der wieder ungeheuer viel Scharfsinn für seine Weltanschauung aufbringen kann, kommt zu dieser Weltanschau­ung auch nur durch eine Einseitigkeit, die er eventuell bemerken kann. Ich muß hier gleich einfügen: Für alle die Weltanschauungen, die ich über den horizontalen Strich schreiben werde, gibt es Anhänger, und diese Anhänger sind zumeist Starrköpfe, die diese oder jene Weltan­schauung durch irgendwelche Grundbedingungen, die sie in sich haben, nehmen und dabei stehenbleiben. Alles, was unter diesem Strich liegt, hat Bekenner, die leichter zugänglich sind der Erkenntnis, daß die einzelnen #SE151-039 Weltanschauungen immer nur von einem bestimmten Gesichts­punkte aus die Dinge ansehen, und die daher leichter dazu kommen, von der einen in die andere Weltanschauung überzugehen. Wenn jemand Psychist ist und sich klar ist, weil er Erkenntnismensch ist, die Welt kontemplativ zu betrachten, so kommt er dazu, sich zu sagen, er muß in der Welt Psychisches voraussetzen. In dem Augen­blicke aber, wo er nicht nur Erkenntnismensch ist, sondern wo er in ebensolcher Weise eine Sympathie für das Aktive, für das Tätige, für das Willensartige in der Menschennatur hat, da sagt er sich: Es genügt nicht, daß Wesen da sind, die nur Ideen haben können; diese Wesen müssen auch etwas Aktives haben, müssen auch handeln können. Das ist aber nicht zu denken, ohne daß diese Wesen individuelle Wesen sind. Das heißt, ein solcher steigt auf von der Annahme der Beseeltheit der Welt zu der Annahme des Geistes oder der Geister in der Welt. Er ist sich noch nicht klar, ob er einen oder mehrere Geistwesen annehmen soll, aber er steigt auf vom Psychismus zum Pneumatismus, zur Geist­lehre. Ist einer in Wirklichkeit Pneumatist geworden, so kann es durchaus vorkommen, daß er das einsieht, was ich heute über die Zahl gesagt habe, daß es in bezug auf die Zahlen in der Tat etwas Bedenkliches hat, von einer Einheit zu sprechen. Dann kommt er dazu, sich zu sagen: Dann wird es also eine Verworrenheit sein, von einem einheitlichen Geist, von einem einheitlichen Pneuma zu reden. Und er kommt dann allmählich dazu, von den Geistern der verschiedenen Hierarchien sich eine Vorstellung bilden zu können. Er wird dann im echten Sinne Spi­ritualist, so daß also auf dieser Seite ein unmittelbarer Übergang vom Pneumatismus zum Spiritualismus ist. Das alles sind Weltanschauungen, die für ihre Gebiete ihre Berech­tigung haben. Denn es gibt Gebiete, für die der Psychismus erklärend wirkt, es gibt Gebiete, für die der Pneumatismus erklärend wirkt. Will man allerdings so gründlich mit der Welterklärung zu Rate gehen, wie wir es versucht haben, dann muß man zum Spiritualismus kommen, zu der Annahme der Geister der Hierarchien. Dann kann man nicht beim Pneumatismus stehenbleiben; denn beim Pneumatismus stehenbleiben würde in diesem Falle das Folgende heißen. Wenn wir Spiritualisten #SE151-040 sind, kann es uns begegnen, daß die Menschen sagen: Warum da so viele Geister? Warum da die Zahl anwenden? Ein einheitlicher Allgeist! -Wer sich tiefer auf die Sache einläßt, der weiß, daß es mit diesem Ein­wande ebenso ist, wie wenn jemand sagt: Da sagst du mir, dort wären zweihundert Mücken. Ich sehe aber keine zweihundert Mücken, ich sehe nur einen einzigen Mückenschwarm. - Genau so würde sich der Anhänger des Pneumatismus gegenüber dem Spiritualisten verhalten. Der Spiritualist sieht die Welt erfüllt mit den Geistern der Hierarchien; der Pneumatist sieht nur den einen Schwarm, sieht nur den einheitlichen Allgeist. Aber das beruht nur auf einer Ungenauigkeit des Anschauens.
Nun gibt es noch eine andere Möglichkeit, die, daß jemand nicht auf den Wegen, die wir zu gehen versucht haben, zu dem Wirken geistiger Wesenheiten kommt, daß er aber doch zu der Annahme gewisser gei­stiger Grundwesen der Welt kommt. Ein solcher Mensch war zum Beispiel Leibniz, der berühmte deutsche Philosoph. Leibniz war hinaus über das Vorurteil, daß irgend etwas bloß materiell in der Welt exi­stieren könne. Er fand das Reale, suchte das Reale. Das Genauere habe ich in meinem Buche «Die Rätsel der Philosophie» dargestellt. Er war #SE151-041 der Anschauung, daß es ein Wesen gibt, das in sich die Existenz erbilden kann, wie zum Beispiel die Menschenseele. Aber er machte sich nicht weitere Begriffe darüber. Er sagte sich nur, daß es ein solches Wesen gibt, das in sich die Existenz erbilden kann, das Vor­stellungen aus sich heraustreibt. Das ist für Leibniz eine Monade. Und er sagte sich: Es muß viele Monaden geben und Monaden von der verschiedensten Fähigkeit. Wenn ich hier eine Glocke habe, so sind dort viele Monaden drinnen - wie in einem Mückenschwarm -, aber Monaden, die nicht einmal bis zum Schlafbewußtsein kommen, Monaden, die fast unbewußt sind, die aber doch dunkelste Vorstellun­gen in sich entwickeln. Es gibt Monaden, die träumen, es gibt Monaden, die wache Vorstellungen in sich entwickeln, kurz, Monaden der ver­schiedensten Grade. - Ein solcher Mensch kommt nicht dazu, sich das Konkrete der einzelnen geistigen Wesenheiten so vorzustellen wie der Spiritualist; aber er reflektiert in der Welt auf das Geistige, das er nur unbestimmt sein läßt. Er nennt es Monade, das heißt, er kommentiert es nur mit dem Vorstellungscharakter, als wenn man sagen würde: Ja, Geist, Geister sind in der Welt; aber ich beschreibe sie nur so, daß ich sage, sie sind verschiedenartig vorstellende Wesen. Eine abstrakte Eigenschaft nehme ich aus ihnen heraus. Da bilde ich mir diese einseitige Weltanschauung aus, für die vor allem soviel vorgebracht werden kann, als der geistvolle Leibniz für sie vorgebracht hat. So bilde ich den Monadismus aus. - Der Monadismus ist ein abstrakter Spiritualismus. Es kann aber Menschen geben, die sich nicht bis zur Monade erheben, die nicht zugeben können, daß dasjenige, was existiert, Wesen sind von verschiedenem Grade des Vorstellungsvermögens, die aber auch nicht etwa damit zufrieden sind, daß sie nur zugeben, was sich in der äußeren Realität ausbreitet, sondern sie lassen das, was sich in der äußeren Realität ausbreitet, überall von Kräften beherrscht sein. Wenn zum Beispiel ein Stein zur Erde fällt, so sagen sie: Da ist die Schwerkraft. Wenn ein Magnet Eisenspäne anzieht, so sagen sie: Da ist die magne­tische Kraft. Sie begnügen sich nicht bloß damit zu sagen: Da ist der Magnet, - sondern sie sagen: Der Magnet setzt voraus, daß übersinnlich, unsichtbar die magnetische Kraft vorhanden ist, die sich überall aus­breitet. Man kann eine solche Weltanschauung bilden, die überall die #SE151-042 Kräfte zu dem sucht, was in der Welt vorgeht, und kann sie Dyna­mismus nennen. Dann kann man auch sagen: Nein, an Kräfte zu glauben, das ist Aberglaube! Ein Beispiel dafür, wie einer ausführlicher darstellt, wie an Kräfte zu glauben Aberglaube ist, haben Sie in Fritz Mauthners «Kritik der Sprache». In diesem Falle bleibt man bei dem stehen, was sich real um uns herum ausbreitet. Wir kommen also auf diesem Wege vom Spiritualismus über den Monadismus und Dynamismus wiederum zum Realismus.
Nun kann man aber auch noch etwas anderes machen. Man kann sagen: Gewiß, ich halte mich an die Welt, die mich ringsherum umgibt. Aber ich behaupte nicht, daß ich ein Recht habe zu sagen, diese Welt sei die wirkliche. Ich weiß nur von ihr zu sagen, daß sie mir erscheint. Und zu mehr habe ich überhaupt nicht Recht, als zu sagen: Diese Welt erscheint mir. Ich habe kein Recht, von ihr mehr zu sagen. - Das ist also ein Unterschied. Man kann von dieser Welt, die sich um uns herum ausbreitet, sagen, sie ist die reale Welt. Aber man kann auch sagen: Von einer anderen Welt kann ich nicht reden; aber ich bin mir klar, daß es die Welt ist, die mir erscheint. Ich rede nicht davon, daß diese Welt von Farben und Tönen, die doch nur dadurch entsteht, daß sich in meinem Auge gewisse Prozesse abspielen, die sich mir als Farben zeigen, daß sich in meinem Ohr Prozesse abspielen, die sich mir als Töne zeigen und so weiter, daß diese Welt die wahre ist. Sie ist die Welt der Phäno­mene. - Phänomenalismus ist die Weltanschauung, um die es sich hier handeln würde. Man kann aber weiter gehen und kann sagen: Die Welt der Phäno­mene haben wir zwar um uns herum. Aber alles, was wir in diesen Phänomenen zu haben glauben so, daß wir es selber hinzugegeben haben, daß wir es selber hinzugedacht haben, das haben wir eben hinzu­gedacht zu den Phänomenen. Berechtigt ist aber nur das, was uns die Sinne sagen. - Merken Sie wohl, ein solcher Mensch, der dieses sagt, ist nicht ein Anhänger des Phänomenalismus, sondern er schält von dem Phänomen das los, wovon er glaubt, daß es nur aus dem Verstande und aus der Vernunft kommt, und er läßt gelten, als irgendwie von der Realität angekündigt, was die Sinne als Eindrücke geben. Diese Welt­anschauung kann man Sensualismus nennen.
Greift man dazu, zu sagen: Mögt ihr nachdenken, daß das die Sinne sagen, und mögt ihr ndch so scharfsinnige Gründe dafür anführen - #SE151-044 man kann scharfsinnige Gründe dafür anführen -, ich stelle mich auf den Standpunkt, es gibt nur das, was so aussieht wie das, was die Sinne sagen; das lasse ich als Materielles gelten - wie etwa der Atomist, der da sagt: Ich nehme an, es existieren nur Atome, und wenn sie noch so klein sind, sie haben die Eigenschaften, die man in der physischen Welt kennt -, dann ist man wieder Materialist. Wir sind also auf dem anderen Wege wieder beim Materialismus angekommen. Was ich Ihnen hier als Weltanschauungen aufgeschrieben und charak­terisiert habe, das gibt es und kann verteidigt werden. Und es ist möglich, für jede einzelne der Weltanschauungen die scharfsinnigsten Gründe vorzubringen, es ist möglich, sich auf den Standpunkt jeder dieser Welt­anschauungen zu stellen und mit scharfsinnigen Gründen die anderen Weltanschauungen zu widerlegen. Man kann zwischen diesen Welt­anschauungen noch andere ausdenken; die sind aber nur gradweise von den angeführten verschieden und lassen sich auf die Haupttypen zurück-führen. Will man das Gewebe der Welt kennenlernen, dann muß man wissen, daß man es durch diese zwölf Eingangstore kennenlernt. Es gibt nicht eine Weltanschauung, die sich verteidigen läßt, die berechtigt ist, sondern es gibt zwölf Weltanschauungen. Und man muß zugeben: Gerade so viele gute Gründe wie für die eine Weltanschauung, so viele gute Gründe lassen sich für jede andere der zwölf Weltanschauungen vorbringen. Die Welt läßt sich nicht von dem einseitigen Standpunkte einer Weltanschauung, eines Gedankens aus betrachten, sondern die Welt enthüllt sich nur dem, der weiß, daß man um sie herumgehen muß. Genau ebenso, wie die Sonne, wenn wir die kopernikanische Welt­anschauung zugrunde legen, durch die Tierkreiszeichen geht, um von zwölf verschiedenen Punkten aus die Erde zu beleuchten, ebenso muß man nicht auf einen Standpunkt - auf den Standpunkt des Idealismus, des Sensualismus, des Phänomenalismus oder irgendeiner Weltanschau­ung, die einen solchen Namen tragen kann - sich stellen, sondern man muß in der Lage sein, um die Welt herumgehen zu können und sich einleben zu können in die zwölf verschiedenen Standpunkte, von denen aus man die Welt betrachten kann. Denkerisch sind alle zwölf ver­schiedenen Standpunkte voll berechtigt. Nicht eine Weltanschauung gibt es für den Denker, der in die Natur des Denkens eindringen #SE151-045 kann, sondern zwölf gleichberechtigte, insofern gleichberechtigte, als sich gleich gute Gründe vom Denken aus für jede vorbringen lassen. Zwölf solche gleichberechtigte Weltanschauungen. gibt es. Von diesem dadurch gewonnenen Gesichtspunkte aus wollen wir morgen weiter reden, damit wir uns von der denkerischen Betrachtung des Menschen zu der Betrachtung des Kosmischen hinaufschwingen.
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